Bayram

Domanovici, 2012

 

Das Flüstern der Menschen erhob sich wie Blätterrauschen zwischen den alten Grabsteinen. Wie dankbar wäre ich für einen Windhauch gewesen, der die drückend heiße Luft an diesem Morgen bewegte. Unter dem Kopftuch, das ich trug, schwitzte ich noch mehr als ohnehin schon an einem Vormittag im August in der Herzegowina. Laura und ich standen auf dem Friedhof von Domanovici in der hintersten Reihe, knapp vor der kleinen Friedhofsmauer. Vor uns die anderen Frauen, auch sie, wie wir, mit langen Hosen oder Röcken, Kopftuch und mindestens ellbogenlangen Blusen. Davor wiederum waren die Männer des Dorfes aufgereiht. Ihnen zugewandt der Hodscha. Er las laut aus dem Koran, die Menschenmenge antwortete ihm flüsternd.

Die muslimischen Einwohnerinnen und Einwohner von Domanovici beteten heute, an Bayram, ihrem höchsten Feiertag, für alle, die im Bürgerkrieg gestorben sind. So hatte es uns Alija heute Morgen erklärt, als wir uns mit ihrer Hilfe für das Ereignis anzogen. Sie beteten für Frauen, Männer, Kinder, für Zivilisten wie für Soldaten. Sie beteten für Nihad, für den jungen Besim, für Hurijas Mann, für Himzos Neffen, für Hasan Hasics zwei Töchter.

Nach dem Ende der Gebete kam Kemal auf uns zu. Ich hatte ihn und seine Familie ein paar Jahre nicht gesehen, erkannte ihn aber sofort wieder: das gutmütige Gesicht, das dem von Alija so glich, die freundlichen Augen. Nur um den Bauch herum hatte er ein wenig mehr, auf dem Kopf dafür ein bisschen weniger als bei unserer letzten Begegnung.

„Sarah, Laura!“ Seine ehrliche Freude darüber, uns wiederzusehen, wurde von uns herzlich erwidert. „Ihr müsst zu uns kommen, jetzt“, beschloss er. „Naima macht etwas zu essen, wir grillen im Garten.“ Eine bosnische Einladung zum Essen abzulehnen ist nicht nur ein Affront gegenüber dem Gastgebenden, sondern auch nahezu unmöglich, und ehe wir uns versahen, saßen wir in Cuckovina auf Kemals Terrasse, zwei Gläser mit Sirup vor uns auf dem Tisch. Während Kemal einen großen steinernen Grill anheizte und Naima in der Küche Kaffee kochte, unterhielten wir uns mit den Töchtern der beiden, die wir mindestens ebenso lang nicht gesehen hatten. Die kleine Maida, die bei der Flucht ihrer Eltern aus Domanovici gerade einmal zwei Jahre alt gewesen war, und ihre jüngere Schwester Almira, mit dem Schalk ihres Vaters in den Augen und Grübchen in den Wangen, wenn sie lächelte. Die beiden sprachen noch ein paar Brocken deutsch, vor allem bei Maida hatte der Besuch eines deutschen Kindergartens dafür gesorgt, dass wir uns gut unterhalten konnten. Sie besuchte auf eigenen Wunsch ein muslimisch-religiöses Privatgymnasium, wollte Lehrerin werden, auch wenn die Chancen auf eine feste Anstellung ohne Beziehungen schlecht standen, wie Alija uns später erzählte.

Während wir auf der Terrasse auf einer großen, braunen Couch saßen, Sirup tranken und schwatzten, beobachtete ich mit Unbehagen, wie Kemal riesige Berge an Fleisch an uns vorbei und Richtung Grill trug. Ich war mit den bosnischen Essgewohnheiten mittlerweile hinlänglich vertraut. Wenn mein westeuropäischer Magen kurz vor der Kapazitätsgrenze war, fingen die Bosnier normalerweise erst mit dem Hauptgang an.

Die meisten Besuche bei bosnischen Bekannten enden mit der Kapitulation des Verdauungstraktes, in Kombination mit heißen Sommertemperaturen ein schwer zu ertragender Zustand. Und Bayram ist sozusagen der Mount Everest unter den Essgelagen, was die Chancen auf nächtliches Bauchweh signifikant erhöht.

Ich habe mir daher über die Jahre eine Strategie zurechtgelegt, wie ich meinen Kreislauf vor dem Kollaps und meine Verdauung vor dem Super-GAU bewahre, ohne meine Gastgebenden vor den Kopf zu stoßen. Zum einen poche ich darauf, Vegetarierin zu sein, was einen Großteil des Menüs von vornherein ausschließt. Zum anderen esse ich zu solchen Gelegenheiten vor allem Gemüse, Salate und Obst, was mir die Möglichkeit gibt, häufig und viel nachzunehmen, ohne mich dabei vollzustopfen. Wenn ich dann noch lauthals die Qualität des Gemüses lobe, das meistens aus dem eigenen Garten stammt und dessen Lob daher gleichzusetzen ist mit einem Lob an die Köchin selbst, und einen kleinen Teil meines Magens für den unweigerlich süßen Nachtisch reserviere, sind die Gastgeber meistens glücklich und ich gehe ohne Bauchschmerzen nach Hause.

Als Kemal also auf seiner nächsten Tour zum Grill einen weiteren Teller Fleisch an uns vorbei trug, ergriff ich die Gelegenheit. „Ich bin Vegetarierin“, rief ich ihm zu. Kemal drehte sich im Gehen zu mir um, ohne seinen Schritt zu verlangsamen. „Kein Problem“, strahlte er, „ich mache Hühnchen!“

Während wir darauf warteten, dass ein halber Hühnerstall seiner finalen Bestimmung entgegengrillte, schweiften meine Gedanken zu meinem ersten Bayramfest.

(…)